Kapitalmarktausblick 07/2024
Die unterschätzte Rezessionsgefahr
Die US-Wirtschaft läuft auch im 2. Quartal 2024 gut, angetrieben durch den Boom der Künstlichen Intelligenz, China, technologisch führend z.B. im Bereich der Elektroautos, beglückt den Rest der Welt mit einer gewaltigen Exportoffensive, Deutschland steht unmittelbar vor einem Aufschwung, sagt zumindest Bundeskanzler Olaf Scholz, und bald werden die Zinsen überall sinken. Damit ist alles im grünen Bereich, oder wird irgendetwas übersehen?
Zunächst sieht das Bild der großen Volkswirtschaften der USA, Chinas und der Eurozone tatsächlich seit Ende 2021 ziemlich gut aus, wenn man bedenkt, dass im Februar 2022 der Krieg in der Ukraine begann, was ganz sicher kein positives Ereignis war. Die farbigen gestrichelten Linien der Grafiken 1-3 zeigen das jeweilige nominale Wirtschaftswachstum, das bis zum 1. Quartal 2024 in allen drei großen Regionen über 10 % erreichte. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass dieses Wachstum insbesondere in China, aber auch in den USA von noch stärker wachsenden Staatsschulden angetrieben worden ist (graue Linien in den Grafiken 1-3).
Nur in der Eurozone ist die Wirtschaft stärker als die Staatsschulden gewachsen. Allerdings muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass in der Eurozone und in der EU bei der Ermittlung der Staatsschulden erhebliche Kreativität angewendet wird. Beispielsweise gibt es seit 2010 diverse Rettungsschirme für Griechenland, Portugal, Irland, Zypern, …, bei denen zwar alle Mitgliedsländer der EU für die dazu aufgenommenen Schulden haften, aber die entsprechenden Beträge nicht in den jeweiligen Staatsschulden gezeigt werden müssen. Ebenso verfährt auch die finanziell angeblich äußerst solide Bundesrepublik Deutschland, die diverse Sondervermögen über 869 Mrd. €, davon 780 Mrd. € kreditfinanziert, nicht in den offiziellen Staatsschulden ausweist (Stand: Ende 2022, Quelle: Nordkurier, 10.3.2024). Auch die Nettokreditaufnahme des Jahres 2023, nach offiziellen Zahlen bescheidene 45,6 Mrd. €, läge laut dem Bundesrechnungshof mehr als viermal so hoch, nämlich bei 192,8 Mrd. €. Nach Berechnungen der Stiftung Marktwirtschaft und des Forschungszentrums Generationenverträge der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (Prof. Raffelhüschen) kommt als größter Betrag noch die implizite, also nicht sichtbare Staatsverschuldung aufgrund der unvermeidlichen künftigen Bundeszuschüsse zur Rentenversicherung und der künftigen Beamtenpensionen in Höhe von über 300% des deutschen Volkseinkommens hinzu. Auch in China und den USA dürfte es Verschleierungen bei der Staatsverschuldung geben, aber möglicherweise sind diese in Europa besonders hoch.
Die Volkswirtschaften von China und den USA brauchen stark wachsende Staatsschulden, um noch ein nennenswertes reales Wirtschaftswachstum zu erzeugen, das leider in wachsendem Ausmaß aus Staatsausgaben besteht. Die Eurozone kommt trotz Buchungstricks vermutlich auf ein etwas geringeres Schuldenwachstum, schafft allerdings kaum noch reales Wirtschaftswachstum. Diese Erkenntnis einer überall nur noch schwach wachsenden Privatwirtschaft deckt sich leider mit den Leading Economic Indicators der US-Researchfirma The Conference Board (TCB-LEI), die schon seit 1916 im nicht ganz einfachen Prognosegeschäft tätig ist und daher wohl einiges richtig macht (zur hohen Trefferquote des TCB-LEI für die USA seit den 50er Jahren siehe den Kapitalmarktausblick vom Juni 2024, den Sie hier finden). Die TCB-LEIs sinken seit Ende 2021 bzw. Anfang 2022 zweistellig (siehe Grafiken 4-6), ohne dass bisher eine Rezession in den Zahlen für die Gesamtwirtschaft der 3 Regionen, die ja auch die hohen Staatsausgaben abbildet, erkennbar wäre.
Nun werfen wir einen Blick auf einige realwirtschaftliche Daten aus China. Der Wohnungsbau, bis vor 3 Jahren eine starke Stütze der chinesischen Wirtschaft, ist seitdem um fast 60% eingebrochen (Grafik 7). Das Konsumentenvertrauen ist ab Februar 2022 auf ein Rekordtief gefallen und hat sich seitdem nicht mehr erholt (Grafik 8). Das Wachstum der Einzelhandelsumsätze (5-Jahres-Durchschnitt) ist in China auf den niedrigsten Wert seit Beginn der Erhebung dieser Daten gesunken (Grafik 9), im Durchschnitt des Jahres 2024 lag der Anstieg nur bei 3,3%.
Auch in der Eurozone sieht es nicht nach Wachstum aus. Die Produktivität stagniert ebenso wie nach der Finanzkrise 2009 und während der Corona-Pandemie (Grafik 10), der starke Rückgang des TCB-LEI für die Eurozone wird durch den anders gebauten Geschäftsklimaindex der Europäischen Kommission, der bis in die 80er Jahre zurückreicht, bestätigt (Grafik 11) und die Kreditvergabe an private Haushalte stagniert, vergleichbar mit der Euro-Krise von 2011 bis 2013 (Grafik 12). Dies alles bestätigt die Aussage von Grafik 3, wonach die Wirtschaft in der Eurozone real kaum wächst.
In einem Bereich hat die Eurozone gegenüber den beiden anderen großen Regionen jedoch einen Vorteil. In China ist das Konsumentenvertrauen extrem niedrig (Grafik 9). Auch in den USA liegt es unter dem Durchschnittswert sämtlicher Rezessionen seit 1961 (Grafik 14), also keineswegs auf Boom-Niveau. Einer der Gründe dafür ist die Tatsache, dass die Amerikaner ihre zusätzlichen Ersparnisse in Höhe von 2.000 Mrd. US-Dollar, die sie mit den üppigen Corona-Hilfen der US-Regierung anhäufen konnten, inzwischen längst ausgegeben haben (Grafik 13). In der Eurozone wurde auch nach der Corona-Epidemie weiterhin kräftig gespart, sodass hier über 1.800 Mrd. Euro zusätzlich darauf warten, ausgegeben zu werden (Grafik 15). Entsprechend ist das Verbrauchervertrauen in der Eurozone seit dem Rekordtief von 2022, als auch in den USA dessen niedrigster Stand erreicht worden war, kräftig gestiegen (Grafik 16). Es liegt aktuell im Gegensatz zu den USA deutlich über den Werten, die während der Rezessionen der letzten Jahrzehnte erreicht wurden. Der Konsum könnte daher künftig anders als in den USA und in China eine Stütze der Konjunktur in der Eurozone werden.
Auch der Neubau wird die US-Wirtschaft künftig wohl eher nicht beleben. Im gewerblichen Bereich ist die Neubautätigkeit seit dem 3. Quartal 2022 um 75% eingebrochen (Grafik 17). Seit Anfang 2023 steigen die Ausfallraten von mit gewerblichen Immobilienkrediten besicherten Wertpapieren (Mortgage backed Securities) stark an (Grafik 18), was die Finanzierung für solche Projekte erschwert, da dadurch die Kreditvergabebereitschaft der Banken leidet.
Im Wohnungsbau dürfte ein Boom ebenfalls auf sich warten lassen. Seit April 2022 ist die Zahl der Neubaubeginne um 26% gefallen (Grafik 19). Angesichts der Unattraktivität von Hauskäufen, die mit dem Affordability Index gemessen wird (Grafik 20), dürfte sich der Neubau erst wieder beleben, wenn die Hypothekenzinsen (Grafik 21), die neben den rekordhohen Hauspreisen (Quelle: US-Zentralbank St. Louis) und den Pro-Kopf-Einkommen Bestandteil dieses Index sind, deutlich sinken.
Der Konsum einer Volkswirtschaft kann aus drei verschiedenen Quellen finanziert werden. Am angenehmsten ist es, wenn man auf bestehende Ersparnisse aus dem Einkommen früherer Jahre zurückgreifen kann.
Dies dürfte keine besonders ergiebige Quelle sein, denn die hohen Ersparnisse aus den Corona-Hilfen sind wie oben erwähnt bereits aufgebraucht (Grafik 13) und die Sparquote war schon vor der Corona-Pandemie nicht sehr hoch und danach fast so niedrig wie vor der Finanzkrise ab 2008 und genauso niedrig wie vor dem Platzen der Internet- und Telekomblase im Jahr 2000 (Grafik 22).
Konsum kann auch aus dem laufenden Einkommen bezahlt werden. Neben der aktuell sehr niedrigen Sparquote deutet aber das sinkende Lohnwachstum und die beginnende Schwäche des US-Arbeitsmarktes mit einem Rückgang der Jobangebote von 12 auf 8 Mio. (Grafik 23) darauf hin, dass auch das laufende Einkommen keinen Konsumboom erwarten lässt. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Arbeitslosenrate (April 2023: 3,4%, Juni 2024: 4,1%) weiter deutlich steigen wird, hat nämlich aktuell stark zugenommen. Der Arbeitsmarkt ist seit über 70 Jahren ein zuverlässiger Frühindikator für Rezessionen. Immer wenn die durchschnittliche Arbeitslosenrate der jeweils letzten 3 Monate den letzten davorliegenden Tiefststand der Arbeitslosenrate um mindestens 0,33 Prozentpunkte übersteigt, begann eine Rezession oder die US-Wirtschaft steckte bereits mittendrin (rote Punkte in Grafik 24 liegen immer in einem grauen Balken). Dieser Indikator hat zuletzt im April 2024 mit einem 3-Monats-Durchschnitt von 3,87% angeschlagen (0,37 Prozentpunkte über der Arbeitslosenrate von 3,5% im Juli 2023). Sollte tatsächlich eine Rezession kommen, so wird die Arbeitslosenrate weiter deutlich ansteigen (blaue Linie in den grauen Balken) und den Konsum belasten.
Auch die letzte Quelle der Konsumfinanzierung, nämlich die Aufnahme von Konsumkrediten, die aus künftigen Einkommen zurückgezahlt werden, verheißt nichts Gutes. Wie bereits erwähnt, bereiten die von knapp 3% auf 7% gestiegenen Hypothekenzinsen den Hauskäufern erhebliche Probleme (Grafiken 20 und 21), obwohl diese Zinssätze im langfristigen Vergleich nicht sehr hoch sind. Die Aufnahme von Konsumkrediten mit der Kreditkarte ist jedoch mit fast 22% Zinsen so teuer wie nie zuvor (Grafik 25); selbst in den frühen 80er Jahren waren die Zinsen „nur“ bei 19%, also etwas höher als die Hypothekenzinsen. Daher fällt vielen Kreditkartenschuldnern die Bedienung dieser Darlehen schwer. Die Ausfallrate liegt inzwischen bei den über 4.000 kleineren US-Banken bei fast 8%, dem höchsten Wert, seit diese Daten erhoben werden (1991). Bei den 100 größten Banken war die Kreditausfallrate von Kreditkartenschulden mit etwas über 3% so hoch wie zuletzt im 1. Quartal 2012.
Ein Konsumboom ist in den USA weder aus Ersparnissen; aus höheren laufenden Einkommen noch aus steigender Kreditaufnahme zu erwarten.
Auch wenn die Rezessionsgefahren in Europa wegen der besseren finanziellen Lage der Konsumenten etwas geringer sind als in den USA, sollte man dennoch beachten, dass US-Rezessionen seit 1970 nicht nur bei US-Aktien, sondern auch am europäischen Aktienmarkt regelmäßig zu Kursverlusten geführt haben. Es mag etwas überraschen, aber bis zum Ende der Eurokrise 2013 unterscheiden sich die Aktienkursverläufe in Europa und den USA nur minimal; erst danach begann die starke Outperformance des amerikanischen Aktienmarktes (Grafik 27). Nach dem Beginn der 8 Rezessionen seit 1970 fielen sowohl die amerikanischen als auch die europäischen Aktienkurse zunächst immer (Grafik 28) und erreichten während der US-Rezessionen einen Kursrückgang, der bei europäischen Aktien mit durchschnittlich -20,6% gegenüber dem Monat vor Rezessionsbeginn sogar größer als bei US-Aktien (durchschnittlich -19,1%) war. Es ist also nicht zu erwarten, dass eine US-Rezession für europäische Aktien irrelevant ist.
Außerdem sind US- Aktien seit 2012 deutlich stärker gestiegen als europäische (Grafiken 27 und 29), auch aufgrund der wirtschaftspolitischen Ereignisse seit der Finanzkrise von 2008 bis 2009. 2011 begann die Eurokrise, deren Vorspiel die im Jahr 2010 notwendig gewordenen Rettungspakete für Griechenland, Irland und Portugal waren. 2011 stiegen dann auch in den wesentlich größeren Ländern Italien und Spanien die Zinsen stark an und die Wirtschaft der Eurozone geriet erneut in eine Rezession, während sich die USA kräftig erholten. Dann kamen der Brexit und die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten. Dies brachte den US-Aktien einen weiteren Schub, da Trump die Unternehmenssteuern kräftig senkte. Europa litt dagegen unter den Drohungen von Trump, mit Zöllen die US-Industrie vor ausländischer und damit auch europäischer Konkurrenz zu schützen. Schließlich ist der Ukraine-Krieg für Europa eine größere Gefahr als für die USA. Sollte Kamala Harris US-Präsidentin werden, dürften europäische Aktien und der Euro davon profitieren. Auch dieser hatte unter den genannten politischen Ereignissen (Grafik 30) gelitten.
Die Euphorie beim Thema Künstliche Intelligenz (KI) findet hauptsächlich auf dem US-Aktienmarkt statt und erklärt einen erheblichen Teil der aktuellen Überbewertung (Grafiken 31 bis 35), aber es wird zunehmend darüber nachgedacht, dass auch sehr viele andere Firmen, die KI-Systeme nicht herstellen, sondern zu nutzen beginnen, davon Vorteile haben werden.
Die Tatsache, dass europäische Aktien deutlich günstiger bewertet sind als amerikanische (Grafik 31) und Ertragserwartungen für die nächsten 10 Jahre von +8% p.a. statt -2% p.a. aufweisen (Grafiken 32 und 33), dürfte allerdings kurzfristig ebenso wenig einen Schutz vor den Folgen einer nicht unwahrscheinlichen US-Rezession bedeuten wie eine Wahlniederlage von Trump.
Wenn man dann noch bedenkt, dass der Aktienanteil der amerikanischen Privatanleger und damit deren Optimismus auf dem höchsten Stand ist, seit die US-Zentralbank im Jahr 1947 (!) mit der Erfassung dieser Daten begonnen hat (Grafik 34), sollte man vielleicht etwas vorsichtiger werden. Auch hier gibt es einen engen und logischen Zusammenhang mit den künftigen Erträgen, die bis 2034 deutlich unter der Nulllinie liegen dürften (Grafik 35).
Außer während der Aktienblase im Jahr 2000 (China, Eurozone) und der 1. Ölkrise (USA ab 1974), als die TCB-LEIs anders als die Aktienkurse stiegen, bewegten sich beide Linien meistens parallel (grüne Bereiche in den Grafiken 36 bis 38). Dass allerdings die TCB-LEIs stark fallen und die Aktienkurse gleichzeitig überdurchschnittlich stark steigen, wie in den USA und Europa seit zweieinhalb Jahren, gab es noch nie.
Fazit:
Das Besondere an der aktuellen Lage am US-Aktienmarkt besteht darin, dass dieser zum dritten Mal nach dem Jahr 2000 (Internet- und Telekomblase) und 2021 (TINA-Blase: There is no Alternative – gemeint war der historisch auch in den USA beispiellos niedrige Zins) extrem teuer ist, aber:
- als einziger Aktienmarkt weltweit, anders als 2000 oder 2021
- in einer geopolitisch viel schlechteren Gesamtlage als 2000 und 2021
- in einer wirtschaftlich schlechteren Lage als 2000 und 2021, als die Wirtschaft weltweit boomte (2000) oder sich nach den Corona-Lockdowns stark erholte (2021); in beiden Fällen waren die TCB-LEIs bis zum Höhepunkt der Aktienkurse in den USA und in Europa gestiegen. Diesmal gibt es dagegen in den großen Regionen USA, China und der Eurozone deutliche Anzeichen für eine wirtschaftliche Abschwächung, die aufgrund der stark gewachsenen Staatsverschuldung möglicherweise nicht wie üblich mit neuen Staatsausgaben bekämpft werden kann
Wegen der engen Verbindung der Volkswirtschaften und Kapitalmärkte der USA und Europas werden Probleme am US-Aktienmarkt auch an den europäischen Aktienmärkten spürbar sein. Daher sollte man Aktien nicht mehr übergewichten und sich stärker auf defensive Sektoren (Gesundheit, Basiskonsum) ausrichten.
An dieser Stelle werden wir wie üblich die Kernaussagen unseres Kapitalmarktausblicks von vor 3 Jahren liefern, damit Sie ein Gefühl für unsere Langfristprognosen bekommen.
Den Kapitalmarktausblick von Juli 2021 finden Sie hier. Darin untersuchten wir die Ineffizienz des deutschen Sozialstaates und die daraus folgende hohe implizite Staatsverschuldung, die zu höheren Staatsschulden in Deutschland im Vergleich zu Italien führt, ohne dass die Mehrzahl der Deutschen nennenswertes Vermögen ansammeln konnten. Ihre Vermögenssituation sieht im Vergleich zu den anderen Staaten der Eurozone schlecht aus.
Außerdem warnten wir vor einer weltweiten Überbewertung von Aktien. Tatsächlich fielen danach sowohl der US-Aktienindex S&P 500 als auch der Aktienindex der Eurozone Eurostoxx 50 bis zum Herbst 2022 jeweils um knapp 20%.
Den Kapitalmarktausblick können Sie auch hier herunterladen.