Kapitalmarktausblick 11/2022
Politik, Wirtschaft und Kapitalmarkt – die aktuelle Lage in den großen Regionen
„They never come back“ gilt angeblich für die Weltmeister im Schwergewichtsboxen. Mit einer einzigen Ausnahme ist diese Regel auch für Weltmächte gültig. Die Ausnahme ist China. Das Land wurde bereits von Rom, von den Mongolen, zuletzt von den USA vom Spitzenplatz verdrängt (siehe Grafik 1 a), aber jedes Mal gelang es den Chinesen, sich erneut zur führenden Macht emporzuarbeiten. Wir untersuchen diesmal die Frage, ob es den Chinesen gelingen wird, die USA und Europa abzuhängen, auch am Kapitalmarkt.
Der chinesische Aufstieg der letzten 50 Jahre gelang unter anderem aufgrund einer erfolgreichen Konzentration der Bildung auf den mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich (siehe Grafik 1 b). Damit hat China den technologischen Anschluss an die westlichen Industrienationen geschafft.
Nun jedoch zeigen sich vermehrt Anzeichen von Ermüdung. Die kommunistische Partei hat vor einigen Jahren begonnen, die ohnehin geringen Freiheitsrechte der Chinesen weiter einzuschränken (Grafik 2 a). Vermutlich hat die Regierung wachsende Angst, den Pakt mit der Bevölkerung nicht mehr einhalten zu können. Dieser bestand darin, dass die Chinesen auf Mitspracherechte gerne verzichteten, solange ihr Wohlstand Jahr für Jahr kräftig zunahm.
Dies gelang jedoch seit der Finanzkrise 2008 zunehmend nur noch dadurch, dass der Anteil der Bau- und Immobilienwirtschaft häufig 30% des Volkseinkommens erreichte, ein Wert, den nur Spanien in den 2 Jahren vor der Finanzkrise schaffte. In Deutschland und den USA blieb dieser Wert immer deutlich unter 20%, meistens kaum mehr als 15% (siehe Kapitalmarktausblick vom November 2021, den Sie hier finden). Bauleistungen steigern das Volkseinkommen kurzfristig besonders stark, langfristig aber nur dann, wenn die Gebäude auch benötigt werden und Erträge erwirtschaften. Bei 65 Mio. leerstehenden sowie einer noch größeren Zahl von verkauften und bezahlten, aber nicht fertiggestellten Wohnungen (siehe Kapitalmarktausblick vom September 2022, den Sie hier finden) ist diese Bedingung nicht erfüllt. Leerstehende Immobilien sorgen dafür, dass die Bauwirtschaft jahrelang schrumpfen wird und die Schulden in China ansteigen. Damit dürfte der gigantische Zementverbrauch in China (siehe Grafik 2 b) nachhaltig sinken. Da die Zementherstellung sehr energieintensiv ist, entfiel seit Jahren mehr als 50% des weltweiten Energieverbrauchs auf China (Grafik 3 a). Künftig könnte die rückläufige Nachfrage Chinas nach Energierohstoffen auf deren Preisniveau dämpfend wirken.
Diese Entwicklung würde der europäische Wirtschaft helfen. Diese ist zwar schon jetzt besonders energieeffizient – Europa erwirtschaftet mit 1 Gigajoule Energie viermal soviel Volkseinkommen wie China (siehe Grafik 3 b). Europa leidet aber mangels eigener Vorkommen von Energierohstoffen und einer noch nicht ausreichenden Anzahl an Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien besonders unter der kriegsbedingten Energiekrise.
Diese wird nicht ewig dauern. Schon kurz nach Kriegsbeginn haben wir in unseren Kapitalmarktausblicken vom März (hier) und April 2022 (hier) erläutert, warum Putins Krieg durchaus mit einer russischen Niederlage enden kann (siehe Grafik 4), aber zumindest Russland in jeder Hinsicht massiv schwächen wird. Allmählich scheinen diese Erkenntnisse auch den russischen Eliten und der Bevölkerung bewusst zu werden. Die Wahrscheinlichkeit eines Friedens innerhalb der nächsten 12 Monate nimmt jedenfalls zu. Europa wäre wirtschaftlich der große Gewinner. Wenn eine neue russische Führung sich dem Westen wieder öffnet, würde auch Russland profitieren. Vielleicht reift demnächst auch dort diese eigentlich banale Erkenntnis.
Der Putin-Krieg hat auch eine Wende bei der bisher besonderen politisch-strategischen Schwäche der Europäer im Vergleich zu dem langfristig planenden China und den USA bewirkt. Diese hatten nach dem ersten Krieg der Russen gegen die Ukraine im Frühjahr 2014 strategisch erkannt, dass man die Ukraine auf weitere Überfälle vorbereiten muss, und haben dies mit Ausbildung und Aufrüstung auch umgesetzt. Die Europäer dagegen – ganz vorn dabei die Deutschen – haben sich in völliger strategischer Blindheit gegen den Rat der Amerikaner sogar in noch stärkere Abhängigkeit von Russland begeben. Zu Putins Überraschung haben sich die Europäer aber nach dem 24. Februar innerhalb von wenigen Tagen umgestellt und erhebliche Sanktionen gegen Russland sowie Waffenlieferungen an die Ukraine beschlossen. Europa ist inzwischen glücklicherweise keine strategiefreie Zone mehr.
Rückläufige Gaspreise helfen auch den europäischen, insbesondere den bis zum August besonders gebeutelten deutschen Aktien. Deren starke Underperformance im Vergleich zu US-Aktien endete mit der Wende der Gaspreisexplosion im August (Grafik 5 a, man beachte die umgekehrte Skalierung der roten Linie). Der Rückgang des Gaspreises leitete auch das Ende der Euro-Schwäche ein (Grafik 5 b).
Trotz dieser leichten Erholung ist der Euro im Vergleich zur Kaufkraftentwicklung seit 1980 noch immer um 18% gegenüber dem US-Dollar unterbewertet (Grafik 6 a und dürfte in den nächsten 10 Jahren um durchschnittlich 4% p.a. aufwerten. Ein stärkerer Euro macht für US-Anleger europäische Aktien attraktiv und lässt eine entsprechende Nachfrage erwarten. Man sollte jedoch die Anlagestrategie nicht zu sehr vom europäischen Gaspreis abhängig machen, denn dieser ist sicher auch wegen des relativ warmen Wetters in Europa gesunken, was bisher den Gasverbrauch entscheidend beeinflusst hat (Grafik 6 b).
Da jedoch auch andere wichtige Rohstoffe und Kosten sich bereits deutlich von ihren Höchstpreisen entfernt haben, wie z. B. der bereits wieder um 25% gefallene Ölpreis (Grafik 7 a), der seit Kriegsbeginn ebenfalls um 25% gefallene Kupferpreis oder der sogar um 70% eingebrochene Container-Frachtkostenindex, dem die US-Inflationsrate seit einigen Jahren mit 4 Monaten Zeitverzögerung folgt (Grafik 7 b), dürfte sich die Lage an der Inflationsfront weiter entspannen. Davon werden die Europäer besonders profitieren. Auch für die Wirtschaft und die Kapitalmärkte in den USA und in China, wo die Inflationsrate wieder auf 2,1% gefallen ist, sind das gute Nachrichten.
Damit gerät ein weiterer aktueller Vorteil Europas ins Blickfeld, nämlich das niedrige Zinsniveau. Die Europäische Zentralbank hat die kurzfristigen Geldmarktzinsen deutlich später als die US-Zentralbank angehoben (siehe Grafik 8 a). Daher sind auch die Zinsen für langfristige Hypothekendarlehen in vielen europäischen Ländern, z.B. in Deutschland, niedriger als in den USA. Der Grund für das tiefe Zinsniveau liegt nicht in niedrigeren Inflationsraten. Diese sind in der Eurozone mit 10,6% oder in Großbritannien mit 11,1% weit höher als in den USA mit 7,7%. Hohe Geldmarktzinsen können jedoch wenig gegen hohe Energiepreise ausrichten, was die EZB richtig erkannt hat. Auch der hoch verschuldete italienische Staat oder die noch höher verschuldete französische Gesamtwirtschaft können hohe Zinsen weniger verkraften als die US-Wirtschaft.
Die Amerikaner hatten nämlich zur Konjunkturstützung während der Corona-Krise weitaus größere Summen in die Wirtschaft gepumpt als die Europäer (Grafik 9 a). Daraus resultierte in den USA ein massiver Konsumboom, während die Staatsgelder in der Eurozone lediglich einen größeren Einbruch verhindern konnten (Grafik 9 b). Künftig könnte der Konsum in den USA sich deutlich schwächer entwickeln als in der Eurozone, wo es eher Nachholbedarf gibt.
Auch bei den Ausrüstungsinvestitionen der Firmen (Grafik 10 a) und den Militärausgaben (Grafik 10 b) hat Europa im Vergleich zu den USA zu wenig getan. Der Nachholbedarf in diesen Bereichen wirkt ebenfalls wachstumsfördernd.
In den USA besteht dagegen erheblicher Nachholbedarf im Wohnimmobilienbereich. Seit der Finanzkrise wurde wenig gebaut (Grafik 11 a). Daher ist das Durchschnittsalter von US-Wohnimmobilien so hoch wie zuletzt 1945 (Grafik 11 b), als wegen des zweiten Weltkriegs in Rüstung statt in Wohnungsbau investiert werden musste.
In Schweden wurde dagegen sehr viel in Neubauten investiert (Grafik 11 a), so dass der Immobilienmarkt auf die Zinssteigerungen ziemlich stark reagiert hat (Grafik 12 a). Anders als insbesondere in China (oder in Schweden) wird der Immobilienmarkt in den USA und in der Eurozone die Wirtschaft nicht nachhaltig belasten. Aufgrund der geringen Neubauaktivitäten in beiden Regionen sind auch die Leerstandsraten extrem niedrig, so dass die Mieten mit den inflationsbedingt höheren Lohnsteigerungen weiter anziehen und die momentan etwas rückläufige Preise stützen werden.
Ein struktureller Schwachpunkt Europas ist die im Vergleich zu den USA wesentlich höhere Staatsquote (Grafik 12 b), die aufgrund der üblicherweise wenig effizienten staatlichen Ausgaben einem höheren Wirtschaftswachstum Europas entgegensteht. Die Staatsquote Chinas lässt sich nicht mehr genau messen, da viele Unternehmen unter wachsendem staatlichen Einfluss stehen und auch ausländische Firmen inzwischen Räumlichkeiten für Mitglieder der kommunistischen Partei bereitstellen müssen. Diese werden bevorzugt für Verhandlungen mit staatlichen Stellen eingesetzt; eine für die Attraktivität des Standorts China sehr gefährliche Entwicklung. Auch die demografische Entwicklung verläuft in China sehr negativ, in Europa leicht negativ und nur in den USA langfristig positiv (siehe Kapitalmarktausblick vom Februar 2022, den Sie hier finden).
Die Aussichten der Aktienmärkte sind in diesem Umfeld recht unterschiedlich. Durch den nachhaltigen Einbruch des Wohnimmobilienmarktes in China und erhebliche Eingriffe in die Geschäftsmodelle der chinesischen Internetriesen (Alibaba, Tencent, Ping An) und auch anderer Firmen, z.B. im Ausbildungsbereich, hat der chinesische Aktienmarkt seit Herbst letzten Jahres ca. 40% verloren, obwohl er damals nicht teuer war. Außerdem hat die rigorose Corona-Politik Chinas die Wirtschaft beschädigt. Einer der Gründe für die häufigen Lockdowns in China ist die Weigerung, westliche Impfstoffe, z.B. von Biontech, zu verwenden, die wirksamer sind als die chinesischen Impfstoffe. Man riskiert also eher erhebliche wirtschaftliche Schäden und Belastungen für die Bevölkerung, als zuzugeben, dass westliche Firmen ein besseres Produkt entwickelt haben.
Noch im Herbst letzten Jahres konnte man mit dem Preis-/Buchwert-Verhältnis 74% der künftigen 10-Jahres-Erträge erklären (Grafik 13 a). Seitdem fiel jedoch die Performance chinesischer Aktien weitaus tiefer aus, als es das Modell vorhergesagt hat. Im Oktober 2022 war dann der jährliche durchschnittliche Ertrag der letzten 10 Jahre bei knapp 4% p.a. statt über 10% p.a. (Grafik 13 b, unterer roter Punkt). Chinesische Aktien standen daher im Oktober 2022 über 40% tiefer als bei unveränderten Rahmenbedingungen. Der geänderte Faktor ist die wirtschaftsfeindliche chinesische Politik. Die wirtschaftliche Schwäche Chinas wirkt sich auch bei den Zinsen aus, die sich selbst im Jahr 2022 kaum bewegt haben, als in Europa und den USA die Zinsen für 10-jährige Staatsanleihen kräftig gestiegen sind (Grafik 15 a). Die chinesischen Zinsen ist daher inzwischen niedriger als die amerikanischen (Grafik 15 b) und kaum noch höher als in den meisten Ländern der Eurozone. Die kräftig gestiegene Zinsdifferenz der USA zu China hat den Wechselkurs des Yuan zum Dollar um über 10% geschwächt (Grafik 15 b). Da die Belastungen der chinesischen Wirtschaft insbesondere im wichtigen Immobiliensektor anhalten werden, während sich die Aussichten für Europa eher aufhellen, könnte der Yuan in den nächsten Jahren auch gegenüber den Euro nachgeben.
Europäische Aktien sind durchschnittlich bewertet (Grafik 14 a) und erreichen damit Ertragserwartungen von fast 9% p.a. (Grafik 14 b).
US-Aktien sind hoch bewertet, aber nicht extrem teuer (Grafik 15 a), die Ertragserwartungen liegen bei 6,5% p.a..
Insgesamt belegt China in vielen Bereichen der Wirtschaft und insbesondere auf der politischen Ebene den nur den dritten Platz. China bräuchte statt rein politisch motivierte und unkalkulierbare Eingriffe in die Wirtschaft erneut Reformer vom Schlage des Vaters des chinesischen Wirtschaftswunders Deng Xiaoping, um sich aus den großen Problemen wieder herauszuarbeiten. Xi Jinping ist inzwischen der falsche Mann für Chinas Zukunft. Am chinesischen Aktienmarkt sind die Ertragserwartungen zwar recht hoch, aber die Prognostizierbarkeit chinesischer Aktien ist sehr niedrig. Militärische Abenteuer wären für China eine weitere enorme Belastung, aber selbst Xi Jinping sollte aus den Erfahrungen Putins die richtigen Schlüsse ziehen.
Die USA, die von der Energiekrise kaum betroffen waren, stehen insgesamt recht gut da. Das überdurchschnittliche Zinsniveau ist dabei zwar eine Belastung, aber auch ein Zeichen einer gewissen Stärke. Langfristig hilft die Stärke im Technologiebereich, aber auch die aktuellen Anreize für industrielle Investitionen aufgrund des neuen Inflation Reduction Acts.
Europa wird erheblich profitieren, wenn die aktuellen Belastungen im Energiebereich gelöst werden können, was mittelfristig recht wahrscheinlich ist. Die übrigen Voraussetzungen für eine positive Entwicklung sind gut.
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