Kapitalmarktausblick 06/2021
Wer hat Angst vorm Inflationsgespenst? Niemand!
In den letzten Wochen haben sich einige Veränderungen ergeben, die unsere schon im Frühjahr 2020 dargelegte Erwartung steigender Inflationsrisiken bestätigen – das ist die schlechte Nachricht. Die darauf aufbauende Folgerung, dass der für die Wirtschaft und die Kapitalmärkte entscheidende Preis, das langfristige Zinsniveau, auf höhere Inflationsraten nur wenig reagieren wird, hat sich bisher allerdings ebenfalls als zutreffend erwiesen und das ist eine gute Nachricht.
Der erhebliche Sprung in der US-Inflationsrate, der sich auch in der nicht vom steigenden Ölpreis beeinflussten Kerninflationsrate (ohne Energie- und Nahrungsmittelpreise, siehe Grafik oben) zeigt, hat sich auf den langfristigen Zins für US-Staatsanleihen kaum ausgewirkt. Dies ist besonders bemerkenswert, weil die US-Regierung im internationalen Vergleich seit 2020 mit 25% des Volkseinkommens die größten Summen für die Stützung der Wirtschaft und den Ausgleich coronabedingter Einkommensverluste bereitgestellt hat (siehe Grafik unten).
Für die nächsten 12 Monate ist diese Nichtbeachtung der aktuellen Preissteigerungen wahrscheinlich sogar gerechtfertigt. Die Holzpreise haben nach starkem Anstieg jüngst wieder deutlich nachgegeben, weil die Nachfrage nach Bauholz in den USA preisbedingt zurückgegangen ist und die Sägewerke ihre Produktion erhöht haben. China beginnt durch den Verkauf strategischer Reserven wichtiger Industriemetalle die Preise zu drücken. Der Ölpreis hat seit April letzten Jahres über 150% zugelegt und war in den letzten 5 Jahren nur im Sommer 2018 kurzzeitig etwas teurer als heute; eine weitere Preissteigerung in diesem Tempo ist äußerst unwahrscheinlich. Das sehen auch die Notenbanken so und daher betonen sie, den plötzlichen Inflationsanstieg nicht zu beachten.
In unserem Kapitalmarktausblick vom Mai 2021, den Sie hier finden, hatten wir die Faktoren beschrieben, die längerfristig, also im Lauf der nächsten Dekade, zu deutlich höheren Inflationsraten beitragen werden. Hier noch einmal die Zusammenfassung:
- Viele Staaten haben sich in den letzten Jahrzehnten insbesondere für hohe Sozialleistungen verschuldet, ohne darauf zu achten, dass diese Ausgaben in der Zukunft keine entsprechenden Steuereinnahmen erzeugen; die wachsende Staatsverschuldung wurde also bewusst in Kauf genommen. Auch künftig werden die Politiker bei demografisch bedingten stark steigenden Sozialleistungen den Weg des geringsten Widerstandes nicht verlassen und die Verschuldung weiter erhöhen
- Dabei konnten sich die Regierungen insbesondere nach der Finanzkrise auf die Hilfe ihrer Notenbanken verlassen, die immer dann, wenn Anleger das Vertrauen in ein Schuldnerland verloren hatten (zuletzt in Italien beim Ausbruch von Corona im Februar 2020), durch Staatsanleihekäufe für sinkende Zinsen gesorgt haben
- Die künftige weltweite demografische Entwicklung eines sinkenden Anteils der Arbeitskräfte an der Gesamtbevölkerung steigert das Inflationspotenzial, da weniger produzierenden Arbeitskräften mehr reine Konsumenten gegenüberstehen. Außerdem verursacht die stark wachsende Zahl älterer Menschen hohe und permanent steigende Gesundheitskosten, die überwiegend vom Staat getragen werden müssen. Die folgende Grafik zeigt, welchen Einfluss die Demografie in den Jahren 1970 bis 2010 (blaue Balken) hatte, als durch den Eintritt der Babyboomer ins Berufsleben, vermehrte Berufstätigkeit von Frauen und die Öffnung Chinas und des ehemaligen Ostblocks die jährliche Inflation in 22 Ländern um durchschnittlich 2,9% p.a. gesenkt wurde. Die orangenen Balken zeigen die bis 2050 durch den sinkenden Anteil der Arbeitskräfte zu erwartenden Anstiege der jährlichen Inflationsraten (Durchschnittswert bis 2050: +3,4% p.a.). Von der häufig erwarteten Deflation wegen der Alterung der Bevölkerung kann also keine Rede sein.
- Die zunehmende De-Globalisierung und wachsende Regulierungsfreude der Politiker (ehemaliger Berliner und demnächst vielleicht bundesweiter Mietendeckel) verringern das Angebot und verteuern bereits jetzt die Produktion. Ebenso würden höhere Steuerbelastungen für Unternehmer ("Reiche") wirken
- Die Versäumnisse der deutschen Politiker aller Parteien bei der Gestaltung bzw. Reform der überteuerten und renditeschwachen kapitalgedeckten Altersvorsorge (Riester-Rente) werden künftig höhere Rentenzahlungen zu Lasten der Staatskasse erfordern
- Die extrem großen Konjunkturprogramme zur Bekämpfung der Coronafolgen, aber auch des Klimawandels trotz schon jetzt extrem hoher Staatsverschuldung könnten wie vor 55 Jahren eine allgemeine Inflationsmentalität auslösen (Politiker geben viel Geld aus, damit steigen die Löhne und die Kosten, dies erzeugt weitere Forderungen nach Lohnerhöhungen etc.)
Nachdem der Zins dem kurzfristigen Inflationsausbruch bisher widerstanden hat, stellt sich nun die Frage, ob auch ein nachhaltiger Inflationsanstieg die Zinsen kaum beeinflussen wird oder ob andernfalls dann ein scharfer Zinsanstieg die Aktien- und Immobilienmärkte zum Einsturz bringen könnte. Diesbezüglich sehen die nächsten Grafiken beruhigend aus.
Zunächst sehen Sie, dass der Zinsrutsch, hier am Beispiel der USA, von bis zu 14%-Punkte Anfang der 80er Jahre auf aktuell 1,45% bei Weitem der größte Zinsrückgang in 221 Jahren seit Beginn der Industrialisierung war.
Zwischen diesem starken Zinsrückgang in den USA und der Inflation (Grafik unten links) gibt es aber nur einen schwachen Zusammenhang (Grafik unten rechts). So konnte bei kaum sinkenden Inflationsraten wie zwischen 1984 und 2021 der langfristige Zins beispiellos stark absinken.
Die Erklärung für den Zinsrückgang liefert ein anderer, im Vergleich zur Inflationsrate wesentlich mächtigerer Einflussfaktor, nämlich die Staatsverschuldung bezogen auf das Volkseinkommen (siehe Grafik Beispiel USA) unten.
Schon der starke Staatsschuldenzuwachs nach der Weltwirtschaftskrise und insbesondere bedingt durch den 2. Weltkrieg war von Zinsen begleitet, die auf das bis dahin niedrigste Niveau seit dem Jahr 1800 gesenkt wurden – maßgeblich durch von der US-Zentralbank gesteuerte extrem tiefe Geldmarktzinsen und permanente Aufkäufe von Staatsanleihen. Die zweite große Verschuldungsorgie begann Anfang der 80er Jahre mit Steuersenkungen und stark steigenden Rüstungsausgaben, wurde Mitte der 90er Jahre durch den von der US-Technologiebranche getragenen Wirtschafts- und Aktienboom mit der Folge hoher Steuereinnahmen auf Aktienkursgewinne unterbrochen und schließlich durch die coronabedingten Staatsausgaben ab 2020 auf neue Rekordstände getrieben. Auch diesmal sorgte die Zentralbank mit wachsenden unterschiedlichen Maßnahmen für sinkende Zinsen.
Die Grafik unten links zeigt, wie stark die Staatsschulden den größten Zinsrückgang aller Zeiten beeinflusst haben; 80% der Zinsbewegung können allein durch steigende Staatsschulden erklärt werden (Grafik unten rechts). Damit bleibt für andere Einflussfaktoren, wie z.B. die Inflation, wenig Raum.
Wir sollten demzufolge erwarten, dass eine Phase höherer Inflationsraten in den nächsten Jahren, in denen die Staatsschulden sicher nicht sinken werden (demografischer Wandel mit steigenden Gesundheitskosten und Ausgaben für die Altersvorsorge, Bekämpfung der Pandemiefolgen und des Klimawandels, …) allenfalls von schwach oder gar nicht steigenden Zinsen geprägt sein wird. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für die USA. Alle genannten Entwicklungen sind auch in den übrigen Industrieländern und zunehmend auch in China in ähnlicher Form das wahrscheinlichste Szenario.
Damit bleibt das Umfeld für den Aktienmarkt grundsätzlich leicht positiv, denn der Zins hat einen starken Einfluss auf die Bewertung und damit auch auf die künftige Performance von Aktien, was nachfolgend zunächst für den weltweiten Aktienmarkt und später für einige Branchen und Regionen zu zeigen sein wird.
Auf den beiden folgenden Grafiken sieht man, dass das Verhältnis der Aktienkurse zum Cash-Flow (KCFV) am weltweiten Aktienmarkt der wichtigste Einflussfaktor für die Performance des Aktienmarktes in den nächsten 10 Jahren ist. Es erklärt 76% der künftigen Performance (und
lässt aktuell für die nächsten 10 Jahre leicht negative Gesamterträge erwarten, linke Grafik). Die Bedeutung des langfristigen Zinsniveaus wird dann aus der rechten Grafik ersichtlich, denn es bestimmt zu 65% das KCFV.
Steigende Zinsen erfordern demzufolge steigende Cash-Flow-Renditen. Diese ergeben sich entweder, wenn die Aktienkurse fallen oder wenn die Cash-Flows der Firmen zunehmen. In einem Umfeld steigender Zinsen dürfte jedoch die Weltwirtschaft mit hochverschuldeten Staaten, Immobilienmärkten und Unternehmen (China, Frankreich, …) kaum allgemein steigende Firmengewinne ermöglichen. Daher sollte man am Aktienmarkt bevorzugt in Branchen oder Regionen investieren, deren Gewinnsituation möglichst konjunkturunabhängig ist (sogenannte Qualitätsaktien) und / oder die gemessen am Zinsniveau niedrig bewertet sind und für die daher ein Zinsanstieg nicht riskant ist.
Nach einer aktuellen Studie des amerikanischen Vermögensverwalters GMO konnten Qualitätsaktien und unter diesen besonders die niedrig bewerteten Value-Qualitätsaktien in Zeiten von Inflationsraten von über 5% p.a. seit 90 Jahren meistens eine deutliche Outperformance gegenüber dem gesamten US-Markt erwirtschaften.
Insgesamt haben die Qualitätsaktien in den Inflationsphasen 20%-Punkte und die Value-Qualitätsaktien 39%-Punkte Outperformance im Vergleich zum gesamten US-Aktienmarkt erzielt.
Zwei Branchen (Sektoren) des weltweiten Aktienmarktes erwiesen sich dabei in den letzten 26 Jahren als deutlich ertragsstabiler als der Gesamtmarkt. Die Aktien des Basis-Konsumgütersektors – Firmen wie Nestlé, Procter & Gamble, Walmart oder Coca-Cola – haben ein wenig konjunkturabhängiges Geschäftsmodell (ihre Produkte werden ständig gekauft bzw. sie decken wie Walmart Grundbedürfnisse der Verbraucher ab). Dementsprechend fallen die Aktienkurse und auch die Cash-Flows dieser Firmen in Krisenzeiten (2002 bis 2003, 2007 bis 2009, 2020) deutlich schwächer als am gesamten Aktienmarkt (siehe untenstehende Grafiken). Außerdem stellen sie überwiegend Markenartikel her, die auch dann weiterhin gekauft werden, wenn der Preis etwas angehoben wird. Die Firmen sind dadurch wenig anfällig gegen inflationäre Tendenzen. Trotz der geringeren Risiken haben sich die Aktienkurse dieser Firmen besser entwickelt als am gesamten Aktienmarkt.
Außerdem lassen sich in dieser Branche die Aktienerträge der nächsten 10 Jahre recht gut vorhersagen, wenn man das aktuelle Kurs-/Cash-Flow-Verhältnis betrachtet. Dieses deutet beim aktuellen Wert von 15,6 mit einer hohen Prognosequalität (70% der Erträge in den nächsten 10 Jahren konnten damit seit 1995 erklärt werden) auf eine jährliche Performance von 5% p.a. hin. Das sind immerhin 7 Prozentpunkte p.a. mehr als am weltweiten Aktienmarkt (siehe S. 4 unten links, Ertragserwartung -2% p.a.)
Noch attraktiver ist der Gesundheitssektor, dessen größte Firmen Johnson & Johnson (USA, Pharma- und Medizintechnikhersteller, eines der wenigen US-Unternehmen mit AAA-Kreditrating), United Health (USA, Krankenversicherung) und Roche (Schweiz, Pharmahersteller) sind. Dort sind die Kurs- und insbesondere die Ertragsstabilität ebenfalls gut (siehe untenstehende Grafiken).
Besonders überzeugend ist in diesem Sektor die hohe Prognosekraft des Kurs-/Cash-Flow-Verhältnisses (92% der 10-Jahres-Erträge konnten seit 1995 mit dieser Kennzahl erklärt werden, siehe obenstehende Grafik) und die nur durchschnittliche Bewertung in einer Zeit extrem niedriger Zinsen. Wenn also anders als am weltweiten Aktienmarkt (siehe Streudiagramm Kurs/ Cashflowverhältnis und 10-Jahres-Performance oben) oder bei Basis-Konsumgüter-Aktien (siehe oben) die tiefen Zinsen nicht zu einer sehr hohen Bewertung geführt haben, so werden steigende Zinsen bei Gesundheitsaktien auch keine sinkenden Bewertungen auslösen. Eher ist damit zu rechnen, dass dauerhaft niedrige Zinsen Gesundheitsaktien weiter nach oben treiben werden. Außerdem zeichnet sich der Gesundheitssektor durch ein schon historisch überdurchschnittliches Ertragswachstum aus, das aufgrund der künftigen weltweiten demografischen Entwicklungen auch zukünftig überdurchschnittlich sein wird. Aus diesen Gründen ist in den Aktienportfolios von FINVIA Aktien insgesamt nicht übergewichtet, aber innerhalb des Aktienanteils ist der Gesundheitssektor deutlich übergewichtet.
Unter den Regionen ist Europa aktuell ein Beispiel für eine nicht besonders hohe Bewertung (siehe Grafik unten links) mit einer daraus folgenden recht guten Ertragserwartung von 5,5% (siehe die grünen Pfeile, die das Kurs/Cash-Flow-Verhältnis zeigen, nachdem die coronabedingten Gewinneinbrüche wahrscheinlich gegen Jahresende 2021 vollständig aufgeholt sind). Auch die Prognosequalität ist mit 77% ziemlich hoch.
Schließlich haben europäische Aktien nur wenig vom extrem tiefen Zinsniveau profitiert (siehe untenstehende Grafiken). Als die Cash-Flow-Rendite (aktuell 8,6%) erstmals vor knapp 25 Jahren unter 10% fiel, lag das Zinsniveau noch bei 4 bis 6%, aktuell bei 0%. Ein moderater Zinsanstieg wird sich also zunächst kaum negativ auf europäische Aktien auswirken können.
Zusammenfassend sollte man für die nächsten 10 Jahre durchschnittlich mindestens 3% Inflation pro Jahr im Euro-Raum und in den USA erwarten, wobei die Werte in den nächsten 5 Jahren etwas niedriger, danach aber höher liegen dürften. Hauptgrund für diese Annahme ist die weltweit in den Industrieländern langfristig gut prognostizierbare demografische Entwicklung.
Die hohen Staatsschulden werden dafür sorgen, dass die Zinsen darauf aber kaum reagieren können.
Damit bleibt das Umfeld insbesondere für diejenigen Teile des Aktienmarktes, die bisher nur wenig von dem Zinsrückgang der letzten Jahre profitiert haben und die wenig anfällig gegen allgemeine Preissteigerungen sind, langfristig positiv. Dazu zählen Basis-Konsumgüteraktien, Gesundheitsaktien und als Region europäische Aktien.