Kapitalmarktausblick 03/2022

Zeitwende

11.3.2022

Zeitwende - Dieses Wort verwendete Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede vom 27. Februar 2022. Die deutsche Politik ist nach vielen Jahren der Verweigerung zukunftsorientierter Maßnahmen (Aufrüstung, Altersvorsorge, …) schnell und gründlich aufgeweckt worden.

Wir befinden uns nicht nur am Ende einer jahrzehntelangen Phase des Friedens in Europa, Nordamerika und Ostasien. Diese Änderung war mit der seit 15 Jahren wachsenden politischen Unsicherheit immer wahrscheinlicher geworden (Abbildung 1a); die politischen Ursachen dieser Zeitenwende werden wir nachfolgend genauer beschreiben.

Auch die historisch beispiellose 40-jährige Ära fallender Zinsen (siehe Abbildung 1b) dürfte beendet sein, da in etlichen Ländern infolge der Corona-Krise Zinssätze unter 0% erreicht wurden, was ökonomisch nicht nachhaltig und historisch auch noch nie vorgekommen ist.

Außerdem steht der massive und allgemein unerwartete Anstieg der Inflationsraten seit Anfang 2021 einer Fortdauer des Zinssenkungstrends entgegen (siehe Abbildung 2a, zu den wesentlichen Ursachen der von uns schon vor 2 Jahren vorhergesagten Steigerung der Inflation siehe Kapitalmarktausblick vom Juni 2020, den Sie hier finden). Die 40-jährige Zeit niedriger Inflationsraten ist nämlich ebenfalls beendet. Der wichtigste Grund dafür, die sinkende Zahl von Arbeitskräften, wird laut einer Studie der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich von 2018 in den analysierten 22 Industrieländern mindestens bis 2050 anhalten und die Inflationsraten durchschnittlich um 3,4%-Punkte p.a. hochtreiben (Abbildung 2b). Der Putin-Krieg verschärft dieses Szenario, da Russland von Putin zu einem Schurkenstaat gemacht wurde, der weitgehend vom Welthandel ausgeschlossen wird, zumindest solange Putin an der Macht bleibt.

Der einzige auch für die Zukunft extrem wichtige Trend der letzten 40 Jahre, der uns noch viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte erhalten bleiben wird, ist die seit den 70er Jahren weltweit sichtbare Entwicklung, dass überall die Staatschulden schneller steigen als das Volkseinkommen (siehe Abbildung 3a). Allerdings wird deren Hauptursache künftig nicht mehr wie bisher ausschließlich „schlechte“ Politik sein, sondern zusätzlich die Alterung der Bevölkerung.

In den letzten 40 Jahren können wir viele Einzelereignisse finden, die insofern „schlechte“ Politik sind, als sie steigende Staatsschulden durch Kapitalverschwendung bewirkt haben, ohne die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Staates positiv zu beeinflussen. Die Ursache dafür sind im Vergleich zu den Jahrzehnten davor nicht verantwortungslosere Politiker, sondern die Tatsache, dass es überall kaum noch zusätzliches Geld zu verteilen gibt (siehe Abbildung 4a).

Außerdem hat sich die Verteilung der Einkommen in den letzten 40 Jahren zunehmend zu Lasten der Geringverdiener verändert, was man aus dem amerikanischen Gini-Koeffizienten ablesen kann (Abbildung 4b, Beispiel USA). Ein Gini-Koeffizient von 1 bedeutet, dass ein US-Amerikaner das gesamte US-Einkommen verdient, der Wert 0 ist gegeben, wenn alle Amerikaner exakt das Gleiche verdienen.

Zur schnellen Belebung der Wirtschaft, beispielsweise zur Ruhigstellung von Unzufriedenen, wurde vor 40 Jahren ein schon vor 300 Jahren geschätztes Rezept weltweit verstärkt eingesetzt: Die Förderung der Bautätigkeit. Der ökonomisch begabte Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. von Preußen (1688 bis 1740) befahl seinen wohlhabenden Berliner Untertanen ohne rhetorische Feinheiten: „Der Kerl hat Geld, soll bauen!“ (Spiegel Special Geschichte, März 2007). Die heutigen Ökonomen wissen, dass der sogenannte Investitionsmultiplikator der Bautätigkeit besonders hoch ist. Der Bauherr muss meist mit hohen Krediten Baumaterialien, das Grundstück, Architekten und Bauarbeiter bezahlen, die sich davon ein neues Auto kaufen können oder in den Urlaub fahren. Ein Euro Steuergeld bewirkt ein Mehrfaches an privaten Ausgaben und regt damit die Wirtschaft, allerdings auch die private Verschuldung an. Steigende Immobilienpreise infolge staatlicher finanzieller Anreize locken weitere Bauherren und Immobilienkäufer an. Langfristig funktioniert die Förderung des Immobilienmarktes aber nur, solange die Mieterträge eines neuen Hausbesitzers (oder die gesparten Mieten eines Eigenheimkäufers) langfristig höher als die Kreditzinsen sind, so dass der Kredit allmählich getilgt werden kann, ohne sonstige Ausgaben einschränken zu müssen. Wenn die Politik den Immobilienmarkt über diesen Punkt hinaus pusht, kippt die zunächst positive Wirkung auf die Wirtschaft bald ab, idealerweise erst nach dem nächsten Wahltermin; am Ende bleiben höhere Staatsschulden und hochverschuldete, häufig bankrotte Immobilienbesitzer. Dann war es „schlechte“ Politik, ebenso wie die ständige Erfindung neuer Ungerechtigkeiten, die das ineffiziente Sozialsystem immer weiter aufblähen, oft ohne jeden Nutzen für wirklich Bedürftige (z.B. Facharbeiterrente, Mütterrente).

In den 80er Jahren zwangen die USA die Japaner zu einer Aufwertung ihrer Währung, um den amerikanischen Importüberschuss im Handel mit Japan einzuschränken. Als Ausgleich für diese Schwächung der japanischen Wirtschaft erlaubte die Regierung den Firmen, Immobilienbesitz von den ursprünglichen, oft sehr niedrigen Werten auf die aktuellen Werte hochzuschreiben und erhob auf den daraus entstehenden Gewinn keine Steuern.

Plötzlich hatten viele japanische Firmen ein sehr hohes Eigenkapital und konnten weitere Immobilien kaufen, die man dann später ebenfalls steuerfrei aufwerten wollte. Angesichts der kräftigen Preissteigerungen (Abbildung 5a) vergaßen die Käufer, dass die Zinskosten längst ein Vielfaches der Mieterträge erreicht hatten; am Höhepunkt des Booms 1990 waren die Mietrenditen im Großraum Tokio bei 0,5%, die Kreditzinsen aber bei mindestens dem 15-fachen, also 7,5%. Immer mehr Immobilienbesitzer wurden von den Zinskosten in den Bankrott getrieben; der Staat musste jahrzehntelang das Bankensystem stützen und erlebte eine beispiellose Explosion seiner Staatsschulden (siehe Abbildung 5b). Die Immobilienpreise haben sich seitdem nicht mehr erholt und der japanische Staat, der gleichzeitig auch noch eine riesige Spekulationsblase am Aktienmarkt ausgelöst hatte, ist heute völlig überschuldet (Abbildung 5b), hat aber anderen Regierungen gezeigt, was beim Niveau der Staatsschulden möglich ist, nämlich 260% des Volkseinkommens.

Der Versuch, die ostdeutsche Wirtschaft nach der Wiedervereinigung mit Immobilieninvestitionen zu beleben, funktionierte von 1991 bis 1994 sehr gut. Sonderabschreibungen von 50% auf den Kaufpreis einer Ostimmobilie bedeuteten für einen Hochverdiener mit 1 Mio. DM Jahreseinkommen eine sofortige Steuerersparnis von ca. 250.000 DM, wenn er eine Immobilie für 1 Mio. DM kaufte. Viele machten das mehrmals. Eine meiner Aufgaben bestand in dieser Zeit darin, für unsere damals wenigen Kunden Ostimmobilienprojekte durchzurechnen. Ich kam bei keinem einzigen Projekt auch nur in die Nähe einer positiven langfristigen Renditeerwartung, weil die Mietrenditen auch nach Abzug der Steuervorteile immer unter 3%, die Hypothekenzinsen aber bei fast 10% lagen. Nachdem Helmut Kohl die Bundestagswahl im Dezember 1994 gewonnen hatte, wurden die Steuervorteile gestrichen und der ostdeutsche Immobilienmarkt brach zusammen. Die Vermögensverluste der Anleger, die sich vom Staat blenden ließen, waren so groß, dass Deutschland aufgrund des schwachen Konsums bis 2006 der „kranke Mann“ Europas war.

Ab Mitte der 90er Jahre pushten die Amerikaner ihren Wohnimmobilienmarkt. Damit Geringverdiener von ihrer unterdurchschnittlichen Einkommenssteigerung der letzten Jahrzehnte (siehe Abbildung 4b) abgelenkt wurden, sorgte die Regierung für besonders lockere Kreditvergabebedingungen. Diese Kredite wurden später „Ninja-Loans“ genannt – no Income, no Job, no Assets. Investmentbanken kauften den US-Sparkassen diese Kredite ab, bastelten aus zahlreichen bonitätsschwachen Darlehen ein Wertpapier und verpassten diesem ein erstklassiges Rating. Damit ließen sich diese Papiere bei ausländischen – gern auch deutschen – Anlegern verkaufen. Ab 2006 begann der US-Immobilienmarkt zu fallen und die „Ninja-Loans“ konnten nur selten zurückgezahlt werden. Das löste die Finanzkrise ab 2008 aus, die das weltweite Bankensystem an den Rand eines Zusammenbruchs brachte. Zur Rettung der Banken begann in den USA und vielen anderen Ländern das Gelddrucken.

Die Immobilieninvestitionen der Amerikaner erreichten vor dieser großen Finanzkrise für wenige Jahre 6% des US-Volkseinkommens (siehe Abbildung 6a). Die Chinesen stimulierten danach ab 2009 zur Bekämpfung der durch überhöhte Immobilieninvestitionen in den USA ausgelösten Krise ihren eigenen Immobilienmarkt so stark, dass bis 2020 über 10 Jahre lang ca. 14% des chinesischen Volkseinkommens in Wohnimmobilien investiert wurden, von denen nun viele Millionen Wohnungen leer stehen (siehe eine detaillierte Analyse im Kapitalmarktausblick vom November 2021, den Sie hier finden). Außerdem wollte man die Ungleichheit bekämpfen (siehe Abbildung 6b), die auch im kommunistischen China seit der Öffnung der Wirtschaft im Jahr 1978 stark gestiegen war. China wird angesichts des enormen Volumens der Kapitalverschwendung durch Immobilien-Fehlinvestitionen in erhebliche Schwierigkeiten geraten. Chinesen pflegen zu demonstrieren, wenn sie Geld verlieren. Möglicherweise sind die zunehmenden Abschottungstendenzen Chinas und die wachsende außenpolitische Aggressivität, etwa gegenüber Taiwan, bereits ein populistisches Ablenkungsmanöver.

Man entdeckt gern ausländische bedrohliche Mächte (bei Putin ist es die NATO und die ukrainische „Neonazi-Regierung“, bei Erdogan die europäischen „Faschisten“, Hitler hetzte gegen das jüdische Großkapital und den östlichen Bolschewismus, Trump gegen die Chinesen), die an den heimischen wirtschaftlichen Problemen schuld sind und die daher unbedingt bekämpft werden müssen. Dieses Verhalten ist bei Regierungen mit zweifelhafter Legitimität seit Jahrhunderten üblich.

Damit sind wir beim unangenehmen Thema der zunehmenden Zahl diktatorisch regierter und aggressiv auftretender Staaten angekommen. Die britische Wirtschaftszeitung The Economist veröffentlicht seit 2006 einen Demokratieindex zwischen 0 (reine Diktatur) bis 10 (perfekte Demokratie).

Im weltweiten Durchschnitt ist der Index seit 2006 nur leicht von 5,52 auf 5,37 Punkte gefallen, aber einige große Länder (Türkei, Russland, China) sind klar auf dem absteigenden Ast; Russland dürfte in den letzten Wochen unter das Niveau von China gefallen sein (Abbildung 7).

Die bereits beschriebenen Abstiegsängste aufgrund geringer Einkommenszuwächse der Unter- und Mittelschicht bei wachsender Ungleichheit sind in der Türkei (Inflation über 50%) und Russland ein Grund für wachsende Unzufriedenheit. Damit der jeweilige Diktator, dem seine private Vermögensbildung weitaus wichtiger ist als das Wohl des Volkes, seinen Posten behalten kann, muss er den Untertanen möglichst viele Freiheiten nehmen, z.B. unabhängige Medien.

Dann kann man die eigenen, meistens nicht besonders gebildeten Anhänger mit Lügengeschichten bei Laune halten. Hier ist Donald Trump, der glücklicherweise als faules Kind reicher Eltern den Aufstieg zum Diktator nicht geschafft hat, für seine Ehrlichkeit zu loben. Am 24.2.2016 erklärte er unmissverständlich: „Ich liebe die schlecht Gebildeten.“

Das übliche Diktatoren-Programm beschleunigt den wirtschaftlichen Abstieg. Es besteht aus einer wachsenden Abschottung, die mit bösen Nachbarn und dunklen Mächten begründet wird. Dann wird aufgerüstet, was wahlweise mit Gelddrucken (Drittes Reich, Türkei, ab jetzt Russland, bald wohl auch China, …) oder Senkung der Sozialausgaben (Russland in den letzten Jahren) finanziert wird. Es folgen Inflationen (Türkei über 50%, Russland steht vor einer Hyperinflation) oder strenge Preiskontrollen zur Verschleierung der Inflation (Drittes Reich). Nun müssen zur Ablenkung Kriege geführt werden, damit sich die „Investitionen“ in Rüstung zu Lasten des allgemeinen Wohlstandes lohnen und das angeblich von Feinden umzingelte Land sich hinter seinem Diktator versammelt. Auch in China verschlechtern sich die Wachstumsperspektiven nach jahrelang hohem, aber mit Immobilienfehlinvestitionen gedoptem Wirtschaftswachstum deutlich, was die wachsende Abschottung und Aggressivität der dortigen Führung gut erklärt. Wenn die Chinesen nicht mehr reicher werden, verliert die kommunistische Partei das Recht auf Alleinherrschaft, denn das wurde ihr aufgrund der enormen Wohlstandssteigerung in China in den letzten 40 Jahren von der Bevölkerung durchaus zu Recht zugestanden. Auch Chinas Führungsschicht ist jedoch korrupt und will auf keinen Fall abtreten; man hat gern Familienangehörige an den Immobilienentwicklungsgesellschaften beteiligt, was den Immobilienboom wohl am besten erklärt.

An dieser Stelle ist die erste gute Nachricht fällig, damit Sie nicht die Lust am Weiterlesen verlieren: Putin hat seinen vollkommen sinnlosen Krieg, der selbst im Erfolgsfall Russland überhaupt keinen Nutzen gebracht hätte, auch noch unglaublich schlecht geplant und ausgeführt. Er hat die Tapferkeit der Ukrainer ebenso unterschätzt wie die Qualität der russischen Bodentruppen überschätzt. Am meisten dürfte ihn aber die plötzliche Einigkeit der NATO – mit der Zeitenwende in Deutschlands Politik hat er ganz sicher nicht gerechnet – und die Wirksamkeit der Sanktionen überrascht haben, die Russlands Finanzsystem innerhalb von wenigen Tagen zum Zusammenbruch gebracht haben. Der Schock beschränkt sich aber nicht auf Putin, sondern auch auf die Putin-Fans und die Anhänger anderer vergleichbarer Figuren wie Erdogan oder Trump. Der Schaden ist nicht nur für die Ukrainer, denen hoffentlich bald kräftige Aufbauhilfe aus dem Westen zufließen wird, sondern auch für die russische Bevölkerung riesig und dürfte in anderen Nationen den Appetit auf diese Art von Politik nachhaltig verschwinden lassen. Auch Xi JinPing wird die wiederbelebte Einigkeit und Aufrüstungsbereitschaft der NATO zur Kenntnis genommen haben. Erdogans Umfragewerte sinken mit steigender Inflation in den Keller, Trump („Putin ist genial“) wird nun wegen des Sturms auf das Kapitol belangt und dürfte als künftiger US-Präsident erledigt sein und Marine Le Pen und Eric Zemmour, die beiden führenden Rechtspopulisten in Frankreich, verlieren in den Umfragen zur französischen Präsidentschaftswahl im April Stimmen. Schließlich wenden sich die Briten von dem notorischen Lügner Boris Johnson wegen seiner diversen Skandale ab, aber auch wegen der stark wachsenden Zweifel, ob der mit zahlreichen Lügen knapp erreichte Brexit wirklich eine gute Idee war.

Vielleicht erleben wir also gerade den Anfang vom Ende der Populisten und Diktatoren. Daher wird die Ära des Friedens wohl nicht von einer kriegerischen Phase abgelöst, sondern von einem neuen Kalten Krieg mit der NATO und den verbündeten asiatischen Staaten (Japan, Australien, Neuseeland, Südkorea) auf der einen Seite und China mit dem verarmten Vasallenstaat Russland auf der anderen Seite.

Nun möchten wir die Folgen der jüngsten Ereignisse für die Kapitalmärkte abschätzen. Dazu betrachten wir zunächst die Auswirkungen von Kriegen auf die Kapitalmärkte. Die folgende Abbildung 8 zeigt den Konsumentenpreisindex Englands seit 1661. England hatte über diesen langen Zeitraum – anders als etwa Deutschland, Italien oder Frankreich, die USA wurden erst 1776 gegründet – keine Währungsreform und keine Hyperinflation erlebt und zeigt daher die grundsätzlichen, auch künftig gültigen Zusammenhänge zwischen Kriegen und Inflation. Außerdem wird die große Bedeutung des Umbaus einer edelmetallgedeckten Währung zu einer reinen Papierwährung deutlich sichtbar (siehe dunkle Linie). Die britische Regierung ahnte beim Ausbruch des ersten Weltkrieges 1914, dass dieser sehr teuer werden und die britischen Goldvorräte, die Grundlage der Währung, überfordern würde. Daher setzte man die Golddeckung des Pfundes aus und konnte nun unbegrenzt Geld zur Finanzierung der Kriegskosten drucken. Bis Ende 1913 war der Konsumentenpreisindex, der 1661 bei 1,32 lag, nur auf 1,39 gestiegen; die jährliche Inflationsrate betrug in diesen 252 Jahren kaum messbare 0,02% p.a. In den folgenden 108 Jahren stieg der Index, der seitdem die Preisentwicklung einer reinen Papierwährung abbildet, bis 2022 auf 124,7; das entspricht einer jährlichen Inflationsrate von durchschnittlich 4,3% p.a. und damit einem Anstieg der Preise um das 90-fache. Die Möglichkeit, beliebig Geld drucken zu können, hat also einen besonders starken und nachhaltigen Einfluss auf die Inflation.

Der zweitwichtigste Einflussfaktor sind große Kriege, die auch schon in der Ära der Goldwährung Inflationen (hier wird der 10-Jahres-Durchschnittswert gezeigt) auslösten: 4% p.a. im Siebenjährigen Krieg (England gegen Frankreich und Preußen, finanziell unterstützt von England, gegen Frankreich, Österreich und Russland) bzw. 6% p.a. während des Krieges gegen Napoleon. Da aber die Schulden für diese Kriege brav in stabiler Goldwährung zurückgezahlt wurden, fiel der Konsumentenpreisindex in den folgenden hundert Jahren nach 1815 bis 1913 wieder auf sein Anfangsniveau zurück. Die beiden Weltkriege brachten Durchschnittsinflationsraten von 11% p.a. bzw. 6% p.a., aber die beiden Ölkrisen der 1970er Jahre, die von einem kaum dreiwöchigen Krieg Israels gegen arabische Staaten 1973 und der Vertreibung des Schahs von Persien 1979 ausgelöst worden waren, bewirkten sogar eine Inflationsrate von 13% p.a. bis 1981. Die Wirkung des Papiergeldes wurde deutlich sichtbar.

Kriege wirken nicht nur wegen der hohen Nachfrage der betroffenen Staaten nach Rüstungsgütern und Soldaten inflationssteigernd, sondern auch wegen des drastisch schrumpfenden Außenhandels. Napoleon hatte mit der Kontinentalsperre den Handel mit England weitgehend unterbrochen. Während der Weltkriege fand eine totale Abschottung Deutschlands und den verbündeten und besetzten Ländern vom Welthandel statt; die Folge war in beiden Fällen eine Hyperinflation, nicht nur in Deutschland. Russland hat im Vorfeld des schon länger geplanten Überfalls auf die Ukraine seinen Außenhandel, z.B. Lebensmittelimporte, zurückgefahren und ist nun innerhalb weniger Tage durch Sanktionen vom Außenhandel abgeschnitten worden.

Damit sind auch im Putin-Krieg beide Faktoren gegeben, die die Inflationsrisiken erhöhen. Festverzinsliche Wertpapiere sind mit Ausnahme der inflationsgeschützten Staatsanleihen noch unattraktiver geworden.

Für Aktien sind Kriege dagegen weitaus weniger gefährlich als für Anleihen, wie die drei folgenden Abbildungen zeigen:

Kriege, sogar die beiden Weltkriege, oder durch Kriege ausgelöste Krisen haben geringere Aktienkursverluste bewirkt als die drei großen Spekulationsblasen der letzten hundert Jahre (siehe Abbildung 9, rote Beschriftung). Den „goldenen“ 20er Jahren, dem Boom der Technologie- und Telekomaktien bis zum Jahr 2000 und dem Immobilienboom in den USA bis 2006 folgten die drei stärksten Kurseinbrüche der letzten 152 Jahre am US-Aktienmarkt, der für langfristige Analysen besonders geeignet ist, weil die beiden Weltkriege weder das politische System verändert noch eine Währungsreform ausgelöst haben.

Staatsanleihen leiden unter kriegerischen Auseinandersetzungen weitaus stärker als Aktien (siehe Abbildungen 10a und b). Von 1900 bis 1984 erreichte deren Gesamtertrag (Kursänderungen + Zinsen) weltweit magere 0,13% p.a. nach Abzug der Inflationsrate, real stieg demzufolge ein Staatsanleihevermögen in 84 Jahren von 100 € auf 116 €. Im gleichen Zeitraum schafften Aktien 4,5% p.a., also wurden aus 100 € nach 84 Jahren 4.034 €. Dieser Zeitraum ist für die Zukunft durchaus relevant, weil er bis 1945 von den beiden Weltkriegen und deren enormen Belastungen für die Staatsfinanzen und danach von längeren Zeiträumen geprägt war, in denen die Zinssätze von den Zentralbanken unter die Inflationsraten gedrückt wurden, um den Staaten die Entschuldung zu erleichtern. Ebenso sind heute die Staatsschulden im historischen Vergleich extrem hoch und seit einem Jahr die Zinsen weit unter der Inflationsrate, da die Staaten hohe Zinsen nicht mehr finanzieren können.

Die Besitzer von Staatsanleihen hatte also am Ende dieser 84 Jahre nur 1/40 des Vermögens eines Aktienbesitzers und damit neben den Steuerzahlern den Großteil der Kriegskosten bezahlt.

Fazit

Das Ende der jahrzehntelangen Phase des Friedens wird drei nachhaltige Folgen haben:

• In der westlichen Welt wird dauerhaft mehr für Rüstung ausgegeben werden müssen, aber weniger wegen Russland, das am Ende des aktuellen Krieges stark geschwächt sein und mangels fehlender Entwicklungsanstrengungen auch bleiben wird, sondern wegen des weitaus mächtigeren und zunehmend aggressiven Chinas

• Die Energiewende wird beschleunigt, aber die dafür benötigten Rohstoffe und Arbeitskräfte sind schon heute knapp und werden im Preis weiter steigen

• Die schrumpfende Zahl der Arbeitskräfte wird in vielen Ländern eine inflationstreibende Lohn-Preis-Spirale auslösen; auch die zunehmende Deglobalisierung erhöht die Kosten

Mehr Rüstung und schnellere Energiewende wirken inflationssteigernd und erfordern zusätzliche Staatsschulden. Diese sind bereits enorm hoch (siehe Abbildung 3a) .

Damit endet auch für lange Zeit die Ära niedriger Inflationsraten, die bereits seit einem Jahr kräftig steigen (Abbildung 2a) und allein aufgrund der Alterung der Bevölkerung weiter steigen oder zumindest hoch bleiben werden (Abbildung 2b). Außerdem wird diese Inflation kaum noch bekämpft werden können, da Staaten in Zeiten extrem hoher Schulden sicherstellen müssen, dass die Zinsen niedrig bleiben (siehe das Beispiel USA, Abbildung 11 und weitere Länder in Abbildungen 3a und b). Zur effektiven Inflationsbekämpfung müssen die Zinsen die Inflationsraten übersteigen, damit Sparen wieder attraktiv wird. Die Zinsen müssten also einen mittleren bis oberen einstelligen Prozentsatz erreichen, was die meisten Finanzminister inzwischen überfordern dürfte. Die brutale Variante der Inflationsbekämpfung, nämlich durch hohe Zinsen eine Wirtschaftskrise auszulösen, werden alle Politiker weltweit unbedingt vermeiden.

Auch ohne nennenswerte Zinssteigerungen ist die 40-jährige Ära fallender Zinsen jedoch beendet, da die Inflationsraten schon jetzt so hoch sind, dass beispielsweise in den USA (Inflationsrate aktuell 7,5%, Staatsanleihezinsen 1,8%) oder Deutschland (Inflationsrate aktuell 5,1%, Staatsanleihezinsen 0,1%) Nullzinsen nicht mehr nötig sind; es darf ein bisschen mehr sein, zumal Aufrüstung und schnelle Energiewende die Wirtschaft beleben und den negativen Folgen höherer Inflation entgegenwirken.

Einstein sagte einmal, zwei Dinge seien unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit; beim Universum sei er sich aber nicht ganz sicher. In Umkehrung dieser Weisheit können wir der Zeitenwende in der Weltpolitik, bei den Zinsen und bei den Inflationsraten eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit beimessen, bei der Annahme einer Zeitenwende beim auf menschlicher Dummheit basierenden Populismus allerdings nicht ganz so sicher sein. Er entspringt eben einem unendlichen Rohstoff.

Für die Kapitalmärkte bedeuten Inflationsraten, die künftig über den bisher für die nächsten 10 Jahre erwarteten Inflationsraten von 3% liegen, dass wir auch etwas höhere Zinsen, die allerdings in der Eurozone kaum über 2% und in den USA kaum über 3% hinausgehen dürften, bekommen werden. Gold wird ebenfalls höhere Erträge abwerfen als bisher erwartet, auch weil die Kapitalmarktteilnehmer noch immer langfristige Inflationserwartungen haben, die kaum über 2% liegen. Die inflationsbedingten Kostensteigerungen werden die Unternehmensgewinne durchaus etwas belasten, aber dem stehen zusätzliche Einnahmequellen durch höhere Rüstungsausgaben und Investitionen für die Energiewende gegenüber. Bei weiterhin sehr negativen Realzinsen werden also noch viele Anleger den Weg aus „sicheren“ Anlagen wie Anleihen oder Sparkonten hin zu Aktien, Unternehmensbeteiligungen, Gold und Immobilien finden, möglicherweise schneller als bisher angenommen, wenn der Putin-Krieg hoffentlich bald beendet ist.

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