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Markus Seidel hat vor 30 Jahren einen Verein gegründet, der mittlerweile in die Off Road Kids Stiftung übergegangen ist. Die Organisation hat bis heute 7000 Jugendliche von der Straße geholt und dem Staat so vermutlich Hunderte Millionen Euro gespart. Seidel aber muss um jeden Cent an Spenden kämpfen. Sein Problem: Umso besser er ist, desto unsichtbarer wird das Problem, das er bekämpft.
Das war eine Jahreskarte für das Schwimmbad und die Sauna im Nachbarort, für sagenhafte 610 Euro. Das ist nicht so wahnsinnig viel, aber für mich ist das enorm wichtig. Ich gehe jeden Abend schwimmen, mindestens eine Stunde nach der Arbeit und lege mich dann kurz auf die heißen Bretter, um den Kopf freizubekommen. Ich kann in diesem Jahr keinen Urlaub machen. Wir stecken in einer enormen Weiterentwicklungsphase. Deshalb gönne ich mir diese abendlichen Auszeiten. Denn, wer rastet, der rostet. Ich habe sogar mal überlegt, ein eigenes Schwimmbad zu bauen.
Das ist viel zu teuer. Ich kann mir das als Chef einer Hilfsorganisation nicht leisten. Die ersten Jahre meiner Tätigkeit habe ich quasi gar kein Geld verdient, später vielleicht 1000 Mark im Monat und heute liegt das Gehalt bei circa 60.000 Euro im Jahr. Davon können sie sich kein Schwimmbad bauen. Und mein Gehalt erhöhen kann und will ich auch nicht: Denn zum einen wird man schräg angeschaut, wenn man sich in meiner Position ein hohes Gehalt zahlt. Zum anderen muss ich ja dann nur noch mehr arbeiten, um das Geld wieder reinzuholen, das ich koste.
Aktuell bekommen wir etwa 10 Prozent vom Familienministerium. Das ist ein Anfang. Die anderen 90 Prozent generieren wir aus Spenden. Davon wiederum kommt ein beachtlicher Teil von großen Spendern wie beispielsweise der Deutsche Bahn Stiftung, der BAHN-BKK, Permira, Schwäbisch Hall, Vodafone oder dem Projektentwickler und Bauunternehmer Christoph Gröner, der uns mit seinen Spendeninitiativen und seinem privaten finanziellen Engagement auch durch die Spendeneinbrüche infolge der Coronakrise gerettet hat. Große Förderer machen 75 Prozent aus, die anderen 25 Prozent Privatspender. Aber gerade in Krisen wie der Corona-Pandemie, wenn die Menschen unsicher sind, spenden sie weniger. Das kann ich ihnen nicht verübeln, aber es führt dazu, dass wir um jede Spende doppelt kämpfen müssen.
Auf keinen Fall. Stagnation bedeutet in unserem Metier das Todesurteil. Wenn wir nicht mehr Spenden bekommen, bleiben junge Menschen auf der Straße oder rutschen in die verdeckte Obdachlosigkeit, müssen mit familiären Zerwürfnissen kämpfen und am Ende sterben einige. Aktuell wird das Problem der Obdachlosigkeit bei jungen Menschen immer akuter, weil die Wohnungsnot so groß ist. Studenten drängen in die gerade noch bezahlbaren Ein-Zimmer-Wohnungen, da ist für Jugendliche oder junge Erwachsene mit kleinem Geldbeutel nichts zu kriegen.
„Das Thema wird immer unsichtbarer, wenn wir gut arbeiten. Wenn Sie heute auf die Domplatte in Köln gehen, dann sind da keine großen Gruppen an bettelnden Jugendlichen mehr. Das ist auch unser Verdienst“
Ich würde nicht sagen, dass es oft scheitert. Wir haben bisher 7000 Kinder und Jugendliche von der Straße geholt. Dass es uns überhaupt seit 30 Jahren gibt, hängt nur damit zusammen, dass Menschen uns Geld spenden. Aber das Thema wird immer unsichtbarer, wenn wir gut arbeiten. Wenn Sie heute auf die Domplatte in Köln gehen, dann sind da keine großen Gruppen an bettelnden Jugendlichen mehr. Das ist auch unser Verdienst. Um mehr Spenden zu sammeln, bräuchten wir mehr Aufmerksamkeit. Aber unser Werbebudget ist sehr begrenzt. Hätten wir beispielsweise Ströer als Förderer, sähe das ganz anders aus.
Wir haben dank der Deutschen Bahn Stiftung einmal im Jahr die Möglichkeit, eine kostenlose Doppelseite im mobil-Magazin der Bahn zu schalten. Das liegt einen Monat lang in jedem ICE aus und wird gelesen. Wenn unsere Anzeige dort erscheint, haben wir sofort eine deutlich höhere Menge an Spendern.
Uns kostet ein Berater für Jugendliche, inklusive allen Nebenkosten wie Miete und Spendenwerbung, rund 80.000 Euro pro Jahr. Wir sind aktuell rund 50 Leute. Insgesamt fallen dieses Jahr also rund vier Millionen Euro an. Der volkswirtschaftliche Return unserer sozialen Arbeit ist allerdings beeindruckend: Wir investieren durchschnittlich 60 Bruttoarbeitsstunden, um einen jungen Menschen von der Straße zu helfen und ihm eine neue Lebensperspektive zu geben. Mit allem Drum und Dran kostet das knapp 3000 Euro. Unsere Sozialarbeiter sorgen dafür, dass die jungen Menschen vernünftig unterkommen und die Weichen zur Berufsausbildung gestellt werden. Natürlich sollen sie nicht dauerhaft dem Sozialsystem zur Last fallen. 3000 Euro mögen recht viel klingen, aber man muss sich vor Augen führen, wie hoch die Ersparnis für die Sozialkassen sein kann: Wenn ein junger Mensch bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung zeitlebens von der Sozialhilfe leben muss, summieren sich die Bezüge auf mindestens 900.000 Euro – ohne Kosten für Erkrankungen und Rehas.
Wenn wir 1000 junge Menschen pro Jahr vor der Obdachlosigkeit bewahren und ihnen in eine tragfähige Zukunft helfen, ist das nicht nur gut für die jungen Menschen, sondern zugleich auch eine Ersparnis von 900 Millionen Euro für die Gesellschaft heute und die nächsten Generationen. 900 Millionen Return ergeben bei drei Millionen Jahres-Invest einen satten Hebel von 300. Zu unseren Mitarbeitern habe ich irgendwann mal gesagt, dass sie sich vor den Margen von Pharmareferenten nicht verstecken müssen. Wenn dieser Return unser monetäres Jahresergebnis wäre, würden uns Investoren mit Geld überschütten. Aber wir sparen das eben nur der Gesellschaft und das wird oft übersehen.
… holt den Taschenrechner
So, jetzt habe ich das mal ausgerechnet: 7.000 Jugendliche haben wir von der Straße geholt, mal 900.000 Euro Kosten. Das sind 6.300.000.000. Bisher. Mehr als 1000 kommen in diesem Jahr dazu.
„Ich wünsche mir, dass uns jemand ein erfolgreiches Unternehmen schenkt.“
Darf ich offen sein? Ich wünsche mir, dass uns jemand ein erfolgreiches Unternehmen schenkt. Das klingt vielleicht etwas verrückt, aber es würde unsere Finanzlage dauerhaft stabilisieren. Wir sind eine Stiftung und würden das Unternehmen professionell weiterführen und aus dem Gewinn die operative Sozialarbeit der Stiftung finanzieren. Wenn also jemand ein Unternehmen abgeben will, weil er keinen Nachfolger hat und etwas Gutes tun will: Melden Sie sich, das würde einen riesigen Unterschied machen. Auch Unternehmensanteile sind extrem hilfreich – drei, fünf oder zehn Prozent und wir könnten von der Dividende noch mehr junge Menschen vor der Obdachlosigkeit retten.
Ich habe im Herbst 1992 eine Menge Reportagen zu dem Thema gesehen und mich gewundert, dass das lange Jahre nach „Christiane F.“ noch immer ein großes Problem in Deutschland, einem G7-Staat, ist. Immerhin haben wir das beste Kinder- und Jugendhilfegesetz der Welt. Ich war damals 25 Jahre alt, und ich habe mir die Frage gestellt, ob wir als junge Bürger einen Missstand auch in einem völlig verregelten Bereich wie der Jugendhilfe wirksam beseitigen dürfen, oder ob wir als nächste Generation nur für den Erhalt des bereits Geschaffenen eingeplant sind. Heute weiß ich, dass junge Bürger die Gesellschaft verändern dürfen, sie aber das Geld dafür mitbringen müssen.
„Mein Vater war Zahntechniker, meine Mutter Künstlerin, da konnte ich nicht erwarten, dass meine Eltern mich durchfüttern“
Ich habe damals recht schnell 50 Bekannte gefunden, die bereit waren, eine Hilfsorganisation zu gründen. Allerdings wollte ich mir zuerst selbst ein Bild von der tatsächlichen Situation auf der Straße machen und bin losgefahren, quer durch Deutschland, um mit den Jugendlichen darüber zu sprechen, wie sie auf die Straße geraten sind, wie sie dort überleben und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Aus dieser Recherche ist das Buch „Straßenkinder in Deutschland – Schicksale, die es nicht geben dürfte“ beim Ullstein-Verlag entstanden. Die öffentliche Resonanz war enorm. aus der Buchrecherche ist eine völlig neuartige, überregionale Straßensozialarbeit entstanden. Wir waren von Anfang an die Brücke zwischen den jungen Menschen in den Großstädten und den Familien und zuständigen Behörden im Heimatgebiet. Ein echter Volltreffer. Daher habe ich mich sehr bewusst dazu entschieden, meine recht gut laufende Werbeagentur und den Journalismus hinter mir zu lassen und zehn Jahre honorarfrei daran zu arbeiten, eine Hilfsorganisation aufzubauen und zu erproben. Anschließend wollten wir schauen, ob wir eine Veränderung bewirken können, und falls ja, die Hilfsorganisation professionell aufstellen. Das hat geklappt.
Mein Vater war Zahntechniker, meine Mutter Künstlerin, da konnte ich nicht erwarten, dass meine Eltern mich durchfüttern. Aber ich hatte mit meiner Werbeagentur ganz gut verdient, und dieses Polster hat mir die ersten zehn Jahre geholfen. Nach zehn Jahren haben wir Bilanz gezogen und entschieden, dass es sinnvoll ist, dass ich die Hilfsorganisation hauptberuflich weiterentwickle.
Ich habe damals überlegt, ob ich nicht erst versuchen sollte, ein Vermögen zu verdienen, um damit die Hilfsorganisation zu finanzieren. Aber ich habe mich dagegen entschieden, weil sofortige Hilfe auch sofort Leben rettet. Ohne diese Entscheidung wären viele der Jugendlichen, denen wir helfen konnten, tot, schwer krank oder drogenabhängig. In der Werbebranche hätte ich erheblich besser verdient und würde heute wahrscheinlich im eigenen Schwimmbad meine Runden ziehen. Ich bin sehr glücklich mit meiner Entscheidung. So habe ich eines hoffentlich fernen Tages auf dem Sterbebett die Gewissheit, wirklich etwas zum Guten verändert zu haben. Das lässt mich sehr ruhig schlafen.
Zur Person: Markus Seidel war früher Journalist und Chef einer Werbeagentur. Dann wurde er Buchautor und gründete 1993 zusammen mit Freunden den Verein Off Road Kids e.V., der im Jahr 2008 zur Off Road Kids Stiftung wurde.
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Markus Seidel, Chef der Off Road Kids Stiftung, spricht über Jugendliche ohne Obdach, Spendenbereitschaft in der Krise und warum seine Stiftung einen irren Return erwirtschaftet, den aber leider nie jemand bemerken wird.
Markus Seidel hat vor 30 Jahren einen Verein gegründet, der mittlerweile in die Off Road Kids Stiftung übergegangen ist. Die Organisation hat bis heute 7000 Jugendliche von der Straße geholt und dem Staat so vermutlich Hunderte Millionen Euro gespart. Seidel aber muss um jeden Cent an Spenden kämpfen. Sein Problem: Umso besser er ist, desto unsichtbarer wird das Problem, das er bekämpft.
Das war eine Jahreskarte für das Schwimmbad und die Sauna im Nachbarort, für sagenhafte 610 Euro. Das ist nicht so wahnsinnig viel, aber für mich ist das enorm wichtig. Ich gehe jeden Abend schwimmen, mindestens eine Stunde nach der Arbeit und lege mich dann kurz auf die heißen Bretter, um den Kopf freizubekommen. Ich kann in diesem Jahr keinen Urlaub machen. Wir stecken in einer enormen Weiterentwicklungsphase. Deshalb gönne ich mir diese abendlichen Auszeiten. Denn, wer rastet, der rostet. Ich habe sogar mal überlegt, ein eigenes Schwimmbad zu bauen.
Das ist viel zu teuer. Ich kann mir das als Chef einer Hilfsorganisation nicht leisten. Die ersten Jahre meiner Tätigkeit habe ich quasi gar kein Geld verdient, später vielleicht 1000 Mark im Monat und heute liegt das Gehalt bei circa 60.000 Euro im Jahr. Davon können sie sich kein Schwimmbad bauen. Und mein Gehalt erhöhen kann und will ich auch nicht: Denn zum einen wird man schräg angeschaut, wenn man sich in meiner Position ein hohes Gehalt zahlt. Zum anderen muss ich ja dann nur noch mehr arbeiten, um das Geld wieder reinzuholen, das ich koste.
Aktuell bekommen wir etwa 10 Prozent vom Familienministerium. Das ist ein Anfang. Die anderen 90 Prozent generieren wir aus Spenden. Davon wiederum kommt ein beachtlicher Teil von großen Spendern wie beispielsweise der Deutsche Bahn Stiftung, der BAHN-BKK, Permira, Schwäbisch Hall, Vodafone oder dem Projektentwickler und Bauunternehmer Christoph Gröner, der uns mit seinen Spendeninitiativen und seinem privaten finanziellen Engagement auch durch die Spendeneinbrüche infolge der Coronakrise gerettet hat. Große Förderer machen 75 Prozent aus, die anderen 25 Prozent Privatspender. Aber gerade in Krisen wie der Corona-Pandemie, wenn die Menschen unsicher sind, spenden sie weniger. Das kann ich ihnen nicht verübeln, aber es führt dazu, dass wir um jede Spende doppelt kämpfen müssen.
Auf keinen Fall. Stagnation bedeutet in unserem Metier das Todesurteil. Wenn wir nicht mehr Spenden bekommen, bleiben junge Menschen auf der Straße oder rutschen in die verdeckte Obdachlosigkeit, müssen mit familiären Zerwürfnissen kämpfen und am Ende sterben einige. Aktuell wird das Problem der Obdachlosigkeit bei jungen Menschen immer akuter, weil die Wohnungsnot so groß ist. Studenten drängen in die gerade noch bezahlbaren Ein-Zimmer-Wohnungen, da ist für Jugendliche oder junge Erwachsene mit kleinem Geldbeutel nichts zu kriegen.
„Das Thema wird immer unsichtbarer, wenn wir gut arbeiten. Wenn Sie heute auf die Domplatte in Köln gehen, dann sind da keine großen Gruppen an bettelnden Jugendlichen mehr. Das ist auch unser Verdienst“
Ich würde nicht sagen, dass es oft scheitert. Wir haben bisher 7000 Kinder und Jugendliche von der Straße geholt. Dass es uns überhaupt seit 30 Jahren gibt, hängt nur damit zusammen, dass Menschen uns Geld spenden. Aber das Thema wird immer unsichtbarer, wenn wir gut arbeiten. Wenn Sie heute auf die Domplatte in Köln gehen, dann sind da keine großen Gruppen an bettelnden Jugendlichen mehr. Das ist auch unser Verdienst. Um mehr Spenden zu sammeln, bräuchten wir mehr Aufmerksamkeit. Aber unser Werbebudget ist sehr begrenzt. Hätten wir beispielsweise Ströer als Förderer, sähe das ganz anders aus.
Wir haben dank der Deutschen Bahn Stiftung einmal im Jahr die Möglichkeit, eine kostenlose Doppelseite im mobil-Magazin der Bahn zu schalten. Das liegt einen Monat lang in jedem ICE aus und wird gelesen. Wenn unsere Anzeige dort erscheint, haben wir sofort eine deutlich höhere Menge an Spendern.
Uns kostet ein Berater für Jugendliche, inklusive allen Nebenkosten wie Miete und Spendenwerbung, rund 80.000 Euro pro Jahr. Wir sind aktuell rund 50 Leute. Insgesamt fallen dieses Jahr also rund vier Millionen Euro an. Der volkswirtschaftliche Return unserer sozialen Arbeit ist allerdings beeindruckend: Wir investieren durchschnittlich 60 Bruttoarbeitsstunden, um einen jungen Menschen von der Straße zu helfen und ihm eine neue Lebensperspektive zu geben. Mit allem Drum und Dran kostet das knapp 3000 Euro. Unsere Sozialarbeiter sorgen dafür, dass die jungen Menschen vernünftig unterkommen und die Weichen zur Berufsausbildung gestellt werden. Natürlich sollen sie nicht dauerhaft dem Sozialsystem zur Last fallen. 3000 Euro mögen recht viel klingen, aber man muss sich vor Augen führen, wie hoch die Ersparnis für die Sozialkassen sein kann: Wenn ein junger Mensch bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung zeitlebens von der Sozialhilfe leben muss, summieren sich die Bezüge auf mindestens 900.000 Euro – ohne Kosten für Erkrankungen und Rehas.
Wenn wir 1000 junge Menschen pro Jahr vor der Obdachlosigkeit bewahren und ihnen in eine tragfähige Zukunft helfen, ist das nicht nur gut für die jungen Menschen, sondern zugleich auch eine Ersparnis von 900 Millionen Euro für die Gesellschaft heute und die nächsten Generationen. 900 Millionen Return ergeben bei drei Millionen Jahres-Invest einen satten Hebel von 300. Zu unseren Mitarbeitern habe ich irgendwann mal gesagt, dass sie sich vor den Margen von Pharmareferenten nicht verstecken müssen. Wenn dieser Return unser monetäres Jahresergebnis wäre, würden uns Investoren mit Geld überschütten. Aber wir sparen das eben nur der Gesellschaft und das wird oft übersehen.
… holt den Taschenrechner
So, jetzt habe ich das mal ausgerechnet: 7.000 Jugendliche haben wir von der Straße geholt, mal 900.000 Euro Kosten. Das sind 6.300.000.000. Bisher. Mehr als 1000 kommen in diesem Jahr dazu.
„Ich wünsche mir, dass uns jemand ein erfolgreiches Unternehmen schenkt.“
Darf ich offen sein? Ich wünsche mir, dass uns jemand ein erfolgreiches Unternehmen schenkt. Das klingt vielleicht etwas verrückt, aber es würde unsere Finanzlage dauerhaft stabilisieren. Wir sind eine Stiftung und würden das Unternehmen professionell weiterführen und aus dem Gewinn die operative Sozialarbeit der Stiftung finanzieren. Wenn also jemand ein Unternehmen abgeben will, weil er keinen Nachfolger hat und etwas Gutes tun will: Melden Sie sich, das würde einen riesigen Unterschied machen. Auch Unternehmensanteile sind extrem hilfreich – drei, fünf oder zehn Prozent und wir könnten von der Dividende noch mehr junge Menschen vor der Obdachlosigkeit retten.
Ich habe im Herbst 1992 eine Menge Reportagen zu dem Thema gesehen und mich gewundert, dass das lange Jahre nach „Christiane F.“ noch immer ein großes Problem in Deutschland, einem G7-Staat, ist. Immerhin haben wir das beste Kinder- und Jugendhilfegesetz der Welt. Ich war damals 25 Jahre alt, und ich habe mir die Frage gestellt, ob wir als junge Bürger einen Missstand auch in einem völlig verregelten Bereich wie der Jugendhilfe wirksam beseitigen dürfen, oder ob wir als nächste Generation nur für den Erhalt des bereits Geschaffenen eingeplant sind. Heute weiß ich, dass junge Bürger die Gesellschaft verändern dürfen, sie aber das Geld dafür mitbringen müssen.
„Mein Vater war Zahntechniker, meine Mutter Künstlerin, da konnte ich nicht erwarten, dass meine Eltern mich durchfüttern“
Ich habe damals recht schnell 50 Bekannte gefunden, die bereit waren, eine Hilfsorganisation zu gründen. Allerdings wollte ich mir zuerst selbst ein Bild von der tatsächlichen Situation auf der Straße machen und bin losgefahren, quer durch Deutschland, um mit den Jugendlichen darüber zu sprechen, wie sie auf die Straße geraten sind, wie sie dort überleben und wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Aus dieser Recherche ist das Buch „Straßenkinder in Deutschland – Schicksale, die es nicht geben dürfte“ beim Ullstein-Verlag entstanden. Die öffentliche Resonanz war enorm. aus der Buchrecherche ist eine völlig neuartige, überregionale Straßensozialarbeit entstanden. Wir waren von Anfang an die Brücke zwischen den jungen Menschen in den Großstädten und den Familien und zuständigen Behörden im Heimatgebiet. Ein echter Volltreffer. Daher habe ich mich sehr bewusst dazu entschieden, meine recht gut laufende Werbeagentur und den Journalismus hinter mir zu lassen und zehn Jahre honorarfrei daran zu arbeiten, eine Hilfsorganisation aufzubauen und zu erproben. Anschließend wollten wir schauen, ob wir eine Veränderung bewirken können, und falls ja, die Hilfsorganisation professionell aufstellen. Das hat geklappt.
Mein Vater war Zahntechniker, meine Mutter Künstlerin, da konnte ich nicht erwarten, dass meine Eltern mich durchfüttern. Aber ich hatte mit meiner Werbeagentur ganz gut verdient, und dieses Polster hat mir die ersten zehn Jahre geholfen. Nach zehn Jahren haben wir Bilanz gezogen und entschieden, dass es sinnvoll ist, dass ich die Hilfsorganisation hauptberuflich weiterentwickle.
Ich habe damals überlegt, ob ich nicht erst versuchen sollte, ein Vermögen zu verdienen, um damit die Hilfsorganisation zu finanzieren. Aber ich habe mich dagegen entschieden, weil sofortige Hilfe auch sofort Leben rettet. Ohne diese Entscheidung wären viele der Jugendlichen, denen wir helfen konnten, tot, schwer krank oder drogenabhängig. In der Werbebranche hätte ich erheblich besser verdient und würde heute wahrscheinlich im eigenen Schwimmbad meine Runden ziehen. Ich bin sehr glücklich mit meiner Entscheidung. So habe ich eines hoffentlich fernen Tages auf dem Sterbebett die Gewissheit, wirklich etwas zum Guten verändert zu haben. Das lässt mich sehr ruhig schlafen.
Zur Person: Markus Seidel war früher Journalist und Chef einer Werbeagentur. Dann wurde er Buchautor und gründete 1993 zusammen mit Freunden den Verein Off Road Kids e.V., der im Jahr 2008 zur Off Road Kids Stiftung wurde.
Über den Autor
Nils Wischmeyer
Nils Wischmeyer schreibt über Finanzmärkte, Geldanlage, Banken, Bankenregulierung und Wirtschaftskriminalität.